Zerfall Jugoslawiens und der Beginn des Kriegs in Vukovar
Weder vergeben – noch vergessenDer Jugoslawienkrieg in den Neunzigerjahren forderte Hunderttausende Tote und eine Million Vertriebene. Während fünf Jahren floss Blut. Der sozialistische Traum von Brüderlichkeit und Einigkeit – er war tot. 20 Jahre sind seit Kriegsende nun vergangen. Und doch herrschen noch immer Wut, Trauer und Unverständnis.
Blut, Boden, Europa – das Ende Jugoslawiens
Blut, Boden, Europa – das Ende Jugoslawiens
Rasender Blutrausch
Auslöser – könnte man sagen – war der Tod des jugoslawischen Partisanenführers Tito. Ohne ihr «Schneewittchen» trugen die «acht Zwerge», die das Land nun allein zu führen hatten, elf Jahre lang eine scharfe Rivalität untereinander aus. 1991 hatten Slowenien und Kroatien genug – sie erklärten sich für unabhängig. Die Jugoslawische Volksarmee unternahm einen halbherzigen Versuch, die Grenzübergänge Sloweniens nach Österreich und Italien zu erobern. Nach nur zehn Tagen zog sie sich zurück; die Unabhängigkeit des kleinen Landes war damit besiegelt.
Anders als in Slowenien lebte in Kroatien eine bedeutende serbische Minderheit in eigenen Siedlungsgebieten. Die Serben widersetzten sich der Unabhängigkeit, sie wollten weiterhin Jugoslawien angehören. Schliesslich griff die Volksarmee auf der Seite der Serben ein und besetzte mehr als ein Viertel des kroatischen Staatsgebiets. Die Kroaten wurden aus dem Gebiet grossflächig vertrieben – die ersten ethnischen Säuberungen, für die Jugoslawien so berüchtigt werden sollte, begannen.
Alle Friedenshoffnungen waren damit zunichte gemacht. Der Krieg stand vor der Türe. Und er war grausam.
Bild Keystone
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«Der Krieg schafft Monster» Vukovar – die Stadt, in der das Leiden begann
«Der Krieg schafft Monster» Vukovar – die Stadt, in der das Leiden begann
Das Grauen von Vukovar
Die Kleine lebte bei ihrer Mutter – Peppas damaliger Ehefrau in Vukovar. Peppa nicht. Er hatte die Stadt und das Land noch lange vor dem Krieg aus wirtschaftlichen Gründen verlassen. Während des Kriegs arbeitete er als Kellner in einer kleinen Schweizer Stadt. «Es war schrecklich, nicht bei ihnen zu sein», sagt Peppa. «Wie hätte ich meiner kleinen Tochter erklären sollen, warum sie sich im Krieg befindet, während ich den Gästen Bier ausschenke?» Wenn ihn der Mut und die Hoffnung verliessen, wenn ihm alles zu viel wurde, lief Peppa in den Wald und schrie sich die Seele aus dem Leib. «Es war das Einzige, das mir damals half, die Hölle des Krieges zu ertragen, ohne dabei verrückt zu werden.»
Als ihm alles zu viel wurde, die Angst zu gross, entschied Peppa, seine Tochter und Ex-Frau vorübergehend in die Schweiz zu holen. Er nahm sich einige Tage frei und fuhr nach Vukovar. Seine alten Freunde – Kroaten und Serben – schilderten ihm ihr Leid. «Es war grauenvoll. Freunde, die als Kinder gemeinsam im Garten gespielt hatten, ermordeten sich 20 Jahre später gegenseitig.» Peppas Stimme fängt an zu zittern. «Frauen wurden vergewaltigt, Kinder ermordet. Ein Kleinkind wurde der Mutter aus den Armen entrissen und vor ihren Augen gegen den Boden geschleudert. Das Kind starb auf der Stelle.»
* Name der Redaktion bekannt. Die Person möchte zum Schutz des engsten Umfelds anonym bleiben.
News aus Vukovar 1991Sinisa Glavasevic – Kriegsreporter bei Radio Vukovar
«Vukovar blutet, und Kroatien verhandelt. Zwischen Blut und Trümmern, zwischen Krankheit und 35 000 unsicheren Menschenleben, meldet sich Radio Vukovars Redaktor Sinisa Glavasevic.»
«Und während ihr gedankenlos euren Morgenkaffee trinkt, stehen uns die Gegner mit ihren Waffen gegenüber.»
(Frauenstimme): Sie nennt Namen von Personen, die im Krieg kämpfen, und bittet diese, sich bei gewissen Organisationen oder ihren Verwandten zu melden.
«Hoffen wir, dass den Kämpfen in Vukovar bald ein Ende gesetzt wird. Bitte Zagreb, vergesst uns nicht!»
«Sollte Vukovar fallen und unter dessen Bevölkerung ein Massaker angerichtet werden – über das man mit Bestimmtheit weiss, dass der Feind es bereits plant –, dann muss man den Schuldigen zuerst in Zagreb suchen. Wir haben schon etliche Hilferufe nach Zagreb geschickt, die bisher alle unbeantwortet blieben.»
Totalzerstörung Vukovar – die Stadt, die nicht mehr existierte
Totalzerstörung Vukovar – die Stadt, die nicht mehr existierte
Grauen von Vukovar
Auch Peppas Schwiegervater starb im Krieg. Er wurde beim Verlassen des Kellers von einer Granate getroffen. «Sie zerfetzte ihn.» Peppa hält inne, zündet sich eine Zigarette an. Parisienne. «Und meinen anderen Schwager haben sie bis heute nicht gefunden. Er wurde entführt, doch was danach mit ihm geschah, bleibt wohl für immer im Dunkeln.» Seiner Tochter und Peppas damaliger Ehefrau ist nichts passiert. Es war ihm gelungen, sie in die Schweiz zu holen.
Nach dem Krieg reiste Peppa nach Vukovar. «Ich musste wissen, was von meiner Stadt noch übrig geblieben ist.» Er erlebte eine Enttäuschung. «Seine» Stadt gab es nicht mehr. Er konnte sie nicht wieder erkennen. «Ich habe meine Jugend in Vukovar verbracht. Ich kannte jede Ecke und jeden Winkel. Nach dem Krieg konnte ich gar nichts Bekanntes mehr entdecken. Es war alles komplett zerbombt.»
* Name der Redaktion bekannt. Die Person möchte zum Schutz des engsten Umfelds anonym bleiben.
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Tiefpunkt des Kriegs: Das Massaker von Srebrenica
Der Tiefpunkt
Und dann kam der Tiefpunkt des Kriegs. Dann geschah Srebrenica.
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Situation in den betroffenen Ländern heute – Analyse
Der lange Schatten des Kriegs20 Jahre sind seit dem Massaker von Srebrenica vergangen. 20 Jahre seit dem Ende des Kroatien- und Bosnienkriegs. 20 Jahre – und dennoch haben sich Jugoslawiens Nachfolgestaaten Bosnien, Kroatien und Serbien nicht erholt. Noch immer wirkt der Krieg der Neunzigerjahre nach. Der Balkan-Korrespondent der «Südostschweiz», Norbert Mappes-Niediek, analysiert nachfolgend die heutige Situation in den Ländern.
Keine Sehnsucht nach verlorener Zeit
Bosnien hat sich vom Krieg nie erholt – die Kämpfe zwischen den drei Volksgruppen werden mit politischen Mitteln weitergeführt. Sowieso wird das Land als Staat von niemandem ernst genommen, am wenigsten von den eigenen Bürgern.
Serbien, das selbst nur einige Wochen im Jahr 1999 einen Luftkrieg durchlebt hat, ist wirtschaftlich und gesellschaftlich stark zurückgefallen: Das Land lag wirtschaftlich vor dem Krieg annähernd auf Augenhöhe mit Kroatien, heute erwirtschaftet es weniger als die Hälfte von damals. Politisch hat das Land gegen den Hass seiner Nachbarn und das Misstrauen der Westmächte zu kämpfen.
Schlummernde Vorurteile
Ausschnitte einer Reportage aus Vukovar Die geteilte Stadt
Ausschnitte einer Reportage aus Vukovar Die geteilte Stadt
Kein Vergeben, kein Vergessen
Vukovar ist eine geteilte Stadt. Es gibt Cafés für Kroaten und Cafés für Serben. Schulen für Kroaten und Schulen für Serben. Discos für Kroaten und Discos für Serben. Alles läuft getrennt. An serbischen Feiertagen schliessen Kroaten in der Stadt die Fensterläden, an kroatischen Feiertagen verlassen die Serben die Stadt. Vukovar scheint im Jahr 1995 steckengeblieben zu sein – der Feind ist immer noch derselbe.
Robert Rac glaubt nicht an den Frieden in Vukovar. «Zu viel ist passiert», sagt der Nachrichtenredaktor von Radio Vukovar. Die Kriegsgeneration kann und wird «dem Feind» nie vergeben – vergessen kann sie nicht. Der Krieg nahm den Müttern ihre Kinder, den Frauen ihre Würde, den Männern ihr Leben und den Kindern … die Kinder wurden ihrer Unschuld beraubt. «Die ältere Generation wird nie darüber hinwegkommen.» Und die jüngere? «Nein», sagt Rac bestimmt, «sie lernen zu Hause zu hassen.» Seit Kindesbeinen an wird ihnen eingetrichtert, dass Kroaten Verräter sind, und umgekehrt die Serben Mörder.
Serbische und kroatische Kinder in Vukovar besuchen keinen gemeinsamen Unterricht. Das wurde von der Politik so beschlossen – im Jahr 1998. Seither wurde nichts geändert. «Wenn Kinder keine gemeinsame Schule besuchen, lernen sie sich auch nicht richtig kennen», meint Rac. Soljic stimmt dem zu. «Politiker sprechen stets von der Normalität, die in Vukovar einkehren muss. Sie sprechen über das Vergeben, das Vergessen – und von Reintegration. Aber dann trennen sie die Kroaten und Serben. Wie sollen Junge zueinander finden, wenn Politik das nicht zulässt?»
20 Jahre sind seit dem Ende des Jugoslawienkriegs vergangen, aber Vukovar will den Schritt in die Zukunft nicht wagen, so scheint es zumindest.
Kristina Ivancic, Magdalena Petrovic, Norbert Mappes-Niediek
Bilder
Keystone, Adam Jones/Flickr, Lea Hefti, Kristina Ivancic
Videos
Youtube-Nutzer «The Last King of Bosnia» mit Titelsong von Alma Bandic, Youtube-Nutzer «NeSZaboravimo», Deutsche Welle
Audio
Audiofile erstellt von Robert Rac, Newsredaktor bei Radio Vukovar, bearbeitet von Kristina Ivancic
Infografik
Rico Kehl
Korrektorat
Karin Bättig-Rehm, Moreno Wüst
Gestaltung
Kristina Ivancic